Vorsicht vor einfachen Lösungen
Für jedes komplexe Problem gibt es eine Lösung, die einfach ist, elegant und falsch. (Journalist und Satiriker H.L. Mencken: “Prejudices: Second Series”, 1921)
Komplexe Systeme und Entscheidungssituationen in Unsicherheit
Karl Weick, James Reason und viele weitere Risikoforscher warnen eindringlich vor der Vereinfachung komplexer Fragestellungen. Der deutsche Psychologe Dietrich Dörner, emeritierter Hochschullehrer an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg erforschte, wie Emotionen sowie Absichten, aber auch die Art der Organisation für Entscheidungsfindungen, die getroffenen Entscheidung von Menschen beeinflussen. Dietrich Dörner nimmt hierzu in seinem Standardwerk „Die Logik des Mißlingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen“ ausführlich Stellung. Nach Dörner entwickeln komplexe Systeme eine Eigendynamik. Hinzu kommt, dass die Akteure keine vollständigen Kenntnisse aller Systemeigenschaften haben und falsche Annahmen darüber machen. Gerade die interdependenten Wechselwirkungen vieler Faktoren erschweren die Vorhersagemöglichkeit des Verhaltens komplexer Systeme. Komplexe adaptive Systeme zeigen nicht-lineare oder paradoxe Verläufe. Sie verändern sich mit der Zeit dynamisch, teils exponentiell, teils sprunghaft und sind stets mit großer Unsicherheit behaftet.
Mit diesem Wissen wird es leichter verständlich, wie schwierig es, in Krisenzeiten unter Stress und Zeitnot richtige Entscheidungen zu treffen. Häufig sind es Entscheidungen, deren Konsequenzen bzw. Auswirkungen erst zeitversetzt zu erkennen sind. So besteht die größte Herausforderung darin, mit einer begrenzten Anzahl an Informationen, also einem unvollständigen Lagebild, möglichst gut an die richtige Entscheidung heran zu kommen, stets im Wissen, dass diese Entscheidung stets im sich wandelnden Umfeld neu überprüft werden muss.
Entscheidungen treffen in vernetzten Systemen
Komplexe Systeme sind eingebettet in weitere komplexe Systeme, die sich gegenseitig beeinflussen, z. B. Krankenhäuser stehen in Wechselwirkung mit dem politisch-öffentlichen Bereich des Gesundheitswesens und dem Staat. Es ist deshalb geboten, sich bei einer Krise aufgrund Unkenntnis aller Informationen eine Strategie des „sich Herantasten an das komplexe Problem“ zu eigen zu machen. Ähnlich wie bei der Versorgung von schwerkranken Sepsispatienten, bei denen behutsam Heilversuche gestartet werden, basieren Krisen-Entscheidungen zum einen auf bereits bewährte Evidenz, zum anderen auf ein intuitives Erfahrungswissen von Experten und Krisenmanager. Aktionismus und fehlverstandenes Heldentum sind hier äußerst schlechte Ratgeber.
Nach der Krise ist vor der Krise
Krisen sind unvermeidbar und können jederzeit eintreten. Ist eine Krise überstanden, steht die nächste schon vor der Tür. Diese Tatsache darf jedoch nicht zu Fatalismus und Phlegma führen, sondern vielmehr zu der Einsicht, dass ein zeitgemäßes kompetentes Krisenmanagement ein wichtiger Bestandteil des Managements einer Gesundheitseinrichtung sein muss.
Mit hoher Professionalität und der ihr gebührenden Entschlossenheit sollte die Aufgabe beherzt angegangen werden. Notwendig ist, ein gut aufgestelltes Team aus Experten und ein kompetenter Krisenmanager*in. Alle notwendigen Entscheidungen sollten auf Augenhöhe und nach vorhandener Kompetenz getroffen werden und nicht nach hierarchischem Rang.
Einteilung von Krisen
- Auslöser/Ursache: Interne oder externe Auslöser oder Kombination aus beiden, natürliche Krisen (z. B. Naturkatastrophen), menschengemachte Krisen (z. B. Konflikte, wirtschaftliche Krisen)
- Bedrohungsstärke/Ausmaß: Große Krise wie Pandemien, Kriege, Klimaextreme, Energieengpässe, kleinere Krisen bezogen auf die Region, die Einrichtung sowie nach Schadensausmaß potenziell bestandsgefährdend, Auswirkungen auf Menschen, Sachwerte, Umwelt
- Zeitvorlauf/Reaktionszeit: Kein Vorlauf, ultrakurz (Minuten bis Stunden), Tage und Wochen, chronische Krise
- Abwehr der Krise: Mit eigenen Bordmittel oder nur unter Inanspruchnahme zusätzlicher externer Hilfe
Die Zuweisung der Aufgaben des Krisenmanagements folgt einem klassischen Phasenmodell:
- Präventives Krisenmanagement mit Etablierung vorbeugender Maßnahmen für potenzielle Krisen
- Antizipativ-reaktives Krisenmanagement mit frühzeitiger Erkennung latenter Bedrohungsszenarien und Initiierung erster Abwehrmaßnahmen
- Akutes Krisenmanagement mit der Bewältigung stattfindender Krisen
Vier Kardinalfehler des reaktiven Krisenmanagements
- Die Krise als solche nicht zu erkennen bzw. zu negieren. Häufig wird das Potenzial der Bedrohung unterschätzt. So werden aus „managebare“ Krisen unkontrollierte Flächenbrände. Es geht wertvolle Zeit verloren, um wichtige Kompetenzen zur Bewältigung der Krise zu rekrutieren. Analog einem Schwellbrand, der unangenehm riecht, das wahre Bedrohungspotenzial jedoch nicht erkannt wird, bis die Flammen lichterloh brennen.
- Die Krise kleinzureden und nicht mit der entsprechenden Ernsthaftigkeit oder dem notwendigen Einsatz von Mitteln zu reagieren. Analog einem Hausbrand, den man vermeintlich nur mit dem eigenen Feuerlöscher zu löschen versucht und das Beste hofft, jedoch die Feuerwehr nicht ruft. Häufig werden unzureichende Ressourcen zur Verfügung gestellt, vermeintlich um Geld zu sparen, was häufig das Gegenteil bewirkt. Die eigene Kompetenz wird überschätzt, respektive die Kompetenzen der anderen unterschätzt.
- Die Krise fachlich nicht adäquat zu managen, sondern sowohl fachliche wie kommunikative Fehlentscheidungen zu treffen. Hinzu kommt fehlende Flexibilität und Kreativität im Finden von Abwehrstrategien bzw. Lösungen. Man meint, alles selbst entscheiden zu können oder zu müssen. Hierarchie zählt mehr als Erfahrung und Kompetenz. Es werden fachlich Unerfahrene oder Mitarbeiter*innen mit fehlendem Spezialwissen, z. B. für Cyberattacken, Stromausfälle, Wasserschäden, Austritt von Gefahrenstoffe, terroristischen Gefahren, Naturgefahren, u.v.m., eingesetzt. Es überwiegt Aktionismus anstatt planvolles, rationales Handeln.
- Die Krise nicht adäquat zu kommunizieren. So können fachlich gut gemanagte Krisen zu sekundären Schäden führen, selbst wenn alles vermeintlich richtig gemacht wurde. Die Innendarstellung des Krisenmanagements gegenüber den Mitarbeitern und Führungskräften ebenso wie die Außendarstellung (public relation) gegenüber den Stakeholdern und der Bevölkerung wird mangelhaft durchgeführt oder vernachlässigt. Dies kann zu einem Reputationsschaden führen, der in weiterer Konsequenz zu einem wirtschaftlichen Schaden führt. In diesem Kontext fällt auch die fehlende Aufarbeitung des Krisenmanagements und fehlende Kommunikation der Lektionen aus der stattgefundenen Krise.
Präventives Krisenmanagement als klassische Risikomanagementaufgabe
Die Geschäftsführung ist verantwortlich für die Einrichtung eines kompetenten präventiven Krisenmanagements. Be prepared for the unexpected. Diesen Widerspruch gilt es auszuhalten und mit der Ambiguität zu leben. Zynisch wäre es, aufgrund dieser Ambiguität nichts zu unternehmen und lediglich auf das Beste zu hoffen.
Krisenmanagement ist Teamarbeit, Kommunikation und Vernetzung. Krisenmanagement ist Business Continuity Management. Ein Krankenhaus kann es sich nicht erlauben, nicht betriebsbereit zu sein. Aufgrund dessen müssen Betriebsausfälle so kurz und der Schaden so gering wie möglich gehalten werden.
Präventives Krisenmanagement ist Teil des Risikomanagements, da potenzielle Krisen große Risiken für den Betrieb, die Mitarbeiter*innen und Patient*innen darstellen. Jedes Risiko ergibt sich aus der Wechselwirkung zwischen der Gefahrenlage und Verwundbarkeit gegenüber dieser Gefahr. Die Verwundbarkeit oder fehlende Resilienz ist wiederum das Ergebnis aus der Funktionsanfälligkeit der Prozesse in einem Krankenhaus. Hierzu zählen sowohl die primär klinischen Prozesse der Patientenversorgung, ebenso wie die technischen und logistischen Prozesse zur Aufrechterhaltung der Betriebsfähigkeit.
Angesichts der Tatsache, dass naturgemäß nicht alle möglichen Krisen vorhersehbar sind, ist es sinnvoll, exemplarische Risiken als repräsentative Krisenbeispiele mithilfe von Szenarien und Simulationen zu identifizieren und anhand von Risikoanalysen deren Bedrohungspotenzial zu bewerten sowie präventive Gegenmaßnahmen zu etablieren.
Themenfelder für Szenarien und Simulationen
- Sicherstellung der Patientensicherheit
- Technische Sicherheit (Safety)
- IT-Sicherheit (Cybersecurity)
- Schutz vor physischen Attacken (Security).
Daraus ergeben sich Präventionsmaßnahmen auf technischer, organisatorischer und personeller Ebene.
Der Krankenhausalarm und – Einsatzplan (KAEP, Link zum Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe) ist der wohl wichtigste Baustein des Krisenmanagements und fasst viele Aspekte des Krisenmanagements zusammen. Im KAEP werden der oder die verschiedenen Krisenmanager bzw. Teamleiter, der situationsspezifische Krisenstab, die Räumlichkeiten des Krisenstabs, die verschiedenen Kommunikationsformen, Schwellenwerte, Zeitvorgaben, Ressourcen und Sofortmaßnahmen der Erstbetroffenen festgelegt. Zudem sollten auch Handlungsoptionen und Spielräume für Flexibilität benannt werden.
Wer in den Krisenstab gehört, hängt von der Expertise und der Rolle im Betrieb ab. Krisenkompetenz ist mehr als nur fachliches Wissen. Gute Krisenmanager*innen verfügen über starke Führungsqualitäten unter Stress und hohes menschliches Einfühlungsvermögen, komplexe bzw. diffuse Lagebilder können rasch analysiert werden um früh in aktives Handeln zu kommen. Sie erkennen schnell Überlastungssituationen der Versorgungskapazität ebenso wie potenzielle Einschränkungen der Versorgungsmöglichkeiten und reagieren schnell und zielgerichtet. So müssen z. B. rechtzeitig Intensivstationen evakuiert, zusätzliche Mitarbeiter aus dem „dienstfrei“ rekrutiert, externe Kräfte hinzugezogen oder erste Statements für die Presse abgegeben werden. Der oder die Krisenmanager*innen benötigten dafür die entsprechenden Entscheidungsbefugnisse.
Kernaufgaben und Verantwortlichkeiten des Krisenmanagers
- Aufbau und Steuerung einer Arbeitsgruppe und verschiedener situationsbedingter Krisenreaktionsteams
- Design, Durchführung und Auswertung von Risikoanalysen anhand differenzierter Szenarioanalysen und Simulationen sowie Auswertung und Aufarbeitung stattgefundener Krisen in steter Zusammenarbeit mit dem Krisenteam
- Erarbeitung von Strategien zur Risikominimierung und Krisenprävention
- Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur Beseitigung von Schwachstellen oder Störungen der Kernprozesse eines Krankenhauses und Etablierung von Redundanzsystemen zur Aufrechterhaltung einer Notfallversorgung
- Aufbau eines Netzwerkes mit externen Hilfskräften und wichtigen Stakeholdern
- Repräsentanz des Krankenhauses nach außen in Angelegenheiten der Alarm- und Einsatzplanung
- Regelmäßiges Reporting zum Status des Krisenmanagements an die Geschäftsführung zur Information, Genehmigung und Inkraftsetzung von Maßnahmen sowie Ressourcenallokation
- Anpassung an neue Gegebenheiten und an den jeweiligen Stand der Wissenschaft und Technik
- Kontinuierliche Evaluation des Krisenmanagements
Fazit
Auch wenn die Kosten für ein effektives Krisenmanagement sowie Risikomanagement primär viele Geschäftsführungen abschrecken, zeigt die Erfahrung, dass ein effektives Krisenmanagement ebenso wie ein gutes Risikomanagement sich langfristig lohnen. Als nützlicher Nebeneffekt werden die Prozesse, insbesondere die klinischen Kernprozesse einer gründlichen Evaluation auf Resilienz bzw. Patientensicherheit überprüft, was die Abläufe in der Regel transparenter und kosteneffizienter gestaltet. Insofern sollte ein modernes und effektives Krisenmanagement stets eingebettet sein in ein ganzheitliches Managementsystem.