WeACT Con 2024 – Gesundheit – Umwelt – Nachhaltigkeit; Klimaschutz bedeutet Patientensicherheit

Klimaschutz bedeutet Patientensicherheit

Es ist schwer, ehrenamtlich die Welt zu retten, wenn andere sie hauptberuflich zerstören.

WeACT Con 2024 – Gesundheit – Umwelt – Nachhaltigkeit

Vom 23. bis 24. April fand die WeACT Con 2024 unter der Schirmherrschaft von Prof. Dr. Karl Lauterbach, Bundesminister für Gesundheit, im Euref-Campus Berlin statt. Dr. Alexander Euteneier war als interessierter Beobachter und Teilnehmer an beiden Tagen vor Ort.

Fazit der Veranstaltung

Der Klimawandel ist ein mächtiger Einflussfaktor auf die Patientensicherheit und somit ein weiterer relevanter Aspekt für das klinische Risikomanagement, welches sich auch vermehrt Klima assoziierten Fragestellungen widmen sollte. Wie können Kliniken und niedergelassene Ärzt*innen durch präventive Maßnahmen die Risiken des Klimawandels für Ihre Patient*innen minimieren?

Patientensicherheit und Klimaschutz sind zwei Seiten derselben Medaille

In seiner Grußbotschaft machte Prof. Lauterbach auf die engen Wechselwirkungen zwischen den Folgen des Klimawandels und dem Auftreten damit assoziierter neuer Krankheiten aufmerksam. Die gelungene Veranstaltung WeACT Con 2024 konnte hierzu wichtige und wertvolle Impulse geben. Ihr Ziel war und ist es, Konzepte und Lösungen zur Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen zu vermitteln, aber auch zu inspirieren und zu motivieren. Hierzu wurden namhafte Referent*innen eingeladen, unter anderem Prof. Eckhard Nagel, geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth zum Thema Ethik und Werte sowie Trendforscherin Corina Mühlhausen, Leitung der Trend- und Zukunftsforschung der Uranos GmbH. Frau Mühlhausen stellte ein soziologisches Modell vor, welches 28 unterschiedliche Micromilieus identifizierte, die sich unterschiedlich den Herausforderungen des Klimawandels stellen respektive unterschiedliche Kommunikationsansprachen benötigen, um sie zu für die Ziele des Klimaschutzes zu erreichen.

Die richtige Kommunikationsstrategien als Basis

Die beiden Geschäftsführerinnen der Organisationen KLUG & Centre for Planetary Health Policy sowie Stiftung Gesunde Erde - Gesunde Menschen gGmbH Maike Voss sowie Kerstin Blum stellten gemeinsam anhand von 5 Thesen zu Kommunikationsstrategien und mögliche Aktionsfelder zur Unterstützung der Nachhaltigkeitsziele vor. Maike Voss stellte dabei eine Analogie auf zwischen der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und einer Suchterkrankung, die es gilt, dementsprechend zu therapieren. So muss die Sucht als solche benannt werden, um einen schrittweisen Entzug zu ermöglichen und alternative therapeutische Ansätze (z. B. erneuerbare Energien) anzubieten. In der 5. These wird postuliert, dass dabei das Gesundheitssystem sowie die Gesundheitsberufe eine besondere Rolle für die gesellschaftliche Transformation einnehmen.

Klimaschutz in der Praxis in der Charité Berlin

Die Veranstaltung lebte von einem Mix aus teils interaktiven Impulsvorträgen und Workshop, in denen die Teilnehmer*innen dazu eingeladen wurden, selbst Vorschläge und Konzepte zur Förderung der Nachhaltigkeit in Kliniken und weiteren Gesundheitseinrichtungen zu erarbeiten. So wurden z. B. im Workshop „Green Klinik – Transformationsprozess Nachhaltigkeit: Vom Lippenbekenntnis zur strukturierten Umsetzung“ moderiert von Jannis Michael, Abteilungsleiter Nachhaltigkeitsmanagement der Charité Berlin und Aline Mittag, Head of Sustainability der Asklepios Kliniken, handfeste und praktische Kriterien vorgestellt, wie z. B. Nachhaltigkeitsprojekte an der Charite nach

  • Impact,
  • Ease of Implementation und
  • Signalwirkung

priorisiert werden.

Gerade dieser Anspruch, lösungsorientierte spürbare Umsetzungen der gesteckten Ziele für eine bessere Nachhaltigkeit, zu erlangen, machte diese Veranstaltung zu einem großen Gewinn.

Fragen der Zeit für Krankenhausmanager*innen

Es wurden die Fokusthemen

  • Wie können wir unser Gesundheitssystem gemeinschaftlich weiterentwickeln?
  • Welche Zielkonflikte gibt es und welche Handlungsfelder ergeben sich daraus?
  • Wo existieren schon heute praktikable und umweltfreundliche Lösungen und wie funktionieren sie?
  • Was braucht es, um gemeinsam ins Handeln zu kommen?

ausgiebig im Rahmen von Impulsvorträgen und Workshops diskutiert.

Klimafolgen und mentale Erkrankungen

Es zeigte sich schnell, dass Nachhaltigkeitsfragen, die das Klima betreffen, unmittelbar auch die Gesundheit betreffen, und zwar die physische ebenso wie die psychische Gesundheit. Die Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) Dr. Andrea Benecke machte in ihrem Vortrag eindrücklich auf die psychischen Folgen der zu erwartenden Hitzewellen aufmerksam, die sich unter anderen in einer erhöhten Suizidrate, einer erhöhten Rate an Psychosen und weiterer mentaler Krankheiten, wie Depressionen und Angststörungen auswirken.

Wissen erfordert Aktion

Immer wieder betonten die Referent*innen unisono, dass das Wissen nicht das Problem sei, vielmehr fehle es allerenden an dem kleinen Schritt, von der Motivation in die Handlung zu kommen. Emotionen spielen hierbei ein größere Rolle als Information und Wissen.

Planetare Gesundheit als universelle Werteklammer

Das Motto zur Erhaltung der „Planetaren Gesundheit“ könnte zukünftig als universelle und auch leichter zu vermittelnde Werteklammer für alle Menschen dieses Planeten dienen. Ihre individuell ansprechende Kernbotschaft zur Erhaltung der Planetaren sowie der individuellen Gesundheit kann die Menschen leichter mobilisieren und ins Handeln bringen als das es alleinig Zahlen, Daten, Fakten vermögen. So wird Klimapolitik zu Gesundheitspolitik. Dr. Eckart von Hirschhausen, der unter anderem die Stiftung Gesunde Erde - Gesunde Menschen gGmbH, gründete, stellte in seinem Impulsvortrag anhand pointierter Bilder und Geschichten die oft erlebte Widersprüchlichkeit und Absurdität des menschlichen Handels vor, und erinnerte mit Humor und mitschwingender Solastalgie, also dem Gefühl des Verlustes durch Zerstörung des eigenen Lebensraums, an die Dringlichkeit zum Handeln.

Summa summarum:

  • Es ist Zeit zu handeln
  • Bereitschaft zum Handeln ist da
  • Kooperation statt Konkurrenz
  • Klimaschutz ist auch klinisches Risikomanagement
  • Nachhaltigkeitsprogramme an Kliniken dienen auch der Patientensicherheit

Reframing:

Wir müssen nicht das Klima retten, sondern…

  • Unsere Gesundheit
  • Unsere Freiheit
  • Unsere Heimat
  • Unser Essen
  • Open-Air-Konzerte im Sommer
  • Sport im Freien
  • Den Sommerurlaub 😉))

Was alle verbindet? Gesundheit!

DMEA_2024_Berlin

Essentials der DMEA 2024 – Connecting digital health

Die Digital Medical Expertise and Applications - Messe (DMEA) 2024, eine führende Messe der digitalen Gesundheitsbranche, wurde vom 9. bis 11. April in Berlin ausgerichtet. Diese Veranstaltung zog etwa 18.600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an und präsentierte rund 800 Aussteller. Mehr als 350 renommierte Rednerinnen und Redner teilten ihr Fachwissen in einer Vielzahl von Vorträgen, Diskussionsrunden und Workshops.

Ganzheitlichen Digitalisierungsstrategie

Dringender denn je steht das deutsche Gesundheitswesen vor den seit Jahren angemahnten Aufgaben einer ganzheitlichen Digitalisierung ihrer Gesundheitseinrichtungen. Weiterhin fehlt eine alle Sektoren übergreifende Digitalisierungsstrategie für Deutschland.

Da mögen die Worte von Prof. Lauterbach (Bundesminister für Gesundheit) bei der Eröffnungsrede „Deutschland soll Vorreiter in der Digitalmedizin werden“ wohlgemeint, jedoch absurd erscheinen. Ist das deutsche Gesundheitswesen doch in vielen Belangen der Digitalisierung Schlusslicht in Europe sowie weit abgeschlagen im weltweiten OECD-Vergleich (2023) bezüglich der Datensatzverfügbarkeitsbewertung, also der Fähigkeit auf die Datensätze im Gesundheitswesen zuzugreifen und diese miteinander verknüpfen zu können.

Strategiegesetz in Aussicht und e-Rezept - Rollout

Nichtsdestotrotz kann der hohe Anspruch nicht schaden, erinnert aber doch sehr an Goethes Worte, „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“. Herrn Prof. Lauterbach ist da kein Vorwurf zu machen, sondern vielmehr seinen etlichen Vorgängern, welche die 16 Jahre davor das Thema schlichtweg schleifen lassen bzw. ignoriert haben. Zumindest wird jetzt ein Strategiegesetz in Aussicht gestellt, das Rollout des e-Rezeptes ist für zweite Jahreshälfte 2024 geplant. Es fehle laut Prof. Lauterbach an einer „übergreifenden Strategie“, die festlege: „Wo wollen wir wann sein, und was sind die Anwendungen, die dem Nutzer das Gefühl geben, er bekommt eine neue Medizin“. Der Nutzen der Digitalisierung müsse täglich auf allen Ebenen für Patienten und für Leistungserbringer erlebbar und spürbar werden.

Herstellerunabhängige Interoperabilität der Systeme & Single Source of Truth

Erfrischend und ernüchternd zugleich war da der Vortrag von Prof. Fritsche, der auf das weiterhin größte Problem der fehlenden Interoperabilität der Software-Systeme hinwies. Anstatt z. B. vieler unterschiedlicher Krankenhausinformationssysteme (KIS) sollte ein KIS mit Mandantenfunktion für die verschiedenen Krankenhäuser eines Konzernes als Plattform dienen. Der nächste Schritt in die Cloud ist damit nicht mehr weit entfernt.

Idealerweise gäbe es analog einer Android- oder Apple-Plattform eine Plattform-Technologie für alle Software-Systeme im deutschen bzw. europäischen Gesundheitsraum, auf deren Technologie die unterschiedlichsten Applikationen wie ePA, KI-Systeme, Laborsysteme, PAC-Systems, SAP-Verwaltungen, Spezial-Apps für die ZNA, Apotheke, Intensivstation und weitere Funktionsabteilungen betrieben werden könnten. Voraussetzung ist eine gemeinsame Sprache, ein harmonisierter Datenraum und standardisierte Schnittstellen. Gefordert wird eine Herstellerunabhängige Interoperabilität der Systeme und eine Single Source of Truth – Informationsstrategie (Alles nur einmal!).

„Android-Lösung für das Gesundheitswesen“ als zukünftige Moon-Story

Solch ein System wäre laut des Autors dieses Newsblogs (A. Euteneier) auch gegen Cyberangriffe sicherer, da es gilt, nur noch ein System gegen Angriffe zu sichern, und nicht wie bisher, unterschiedlichste Technologien alle einzeln abzusichern. Es bräuchte eine „Android-Lösung für das Gesundheitswesen“. Das wäre eine Moon-Story, die neben der Interoperabilität der Systeme und immensen Kostenersparnis auch ein mentales Zusammenwachsen der Gesundheitseinrichtungen befördere, Kooperationen ermöglicht und darüber hinaus die gesamte Patienten-Journey von der „cradle to grave“ abbilde.

Zentraler Terminologieserver als erster Schritt

Die Referentin des BfArM Michaela Warzecha stellte die Entwicklung eines zentralen Terminologie-Server auf Basis des FHIR-Formates (Fast Healthcare Interoperability Resources) vor, der ein Schritt in Richtung Interoperabilität der Systeme sein könnte. Primäre Zielsetzung des zentralen Terminologieservers ist eine zentrale Bereitstellung von Kodiersystemen (CodeSystems), Wertelisten (ValueSets) und Mappings (ConceptMaps) für unterschiedliche Anwendungen im Gesundheitswesen. Ähnlich wie in Österreich sollen so verschiedene Kodiersysteme, wie ICD-10-GM, OPS, ORPHAcodes, LOINC, ICD-O-3, ICF und UCUM mittels eines Konverters in ein gemeinsames FHIR-Format umgewandelt werden. Laut Frau Warzecha sollen in einem ersten Schritt ab dem 22. Mai 2024 diese Kodiersysteme und Wertelisten als FHIR-Packages zur Kommentierung bereit stehen (https://terminologieserver.bfarm.de).

Mögliche Anwendungen auf Basis des HL7 -  FHIR-Formates stellte Simone Heckmann, CEO der Firma GeFyra GmbH vor. So können aus strukturierten Daten (= definierte kleinste Informationseinheiten, auch „systemunabhängige Ressourcen“, z. B. Patient, Medikament, Allergie, Diagnose) über entsprechende Vorgaben (Templates / Formulare) strukturierte Dokumente wie ein Entlassungsbrief oder eine Medikamentenanordnung erstellt werden. Solche Formulare sind systemunabhängig und können nutzerorientiert jeweils an die Anforderungen vor Ort angepasst werden. Man könnte zusammenfassend sagen, der Inhalt wird von seiner Form getrennt, analog zu xml und html.

Finnland Spitzenreiter im Digital Economy and Society Index - KANTA

Dass manche Länder längst das umgesetzt haben, was in Deutschland noch in Planung ist, konnte man in der Vorstellung des Digitalisierungsgrades des finnischen Gesundheitssystems schmerzlich feststellen. So ist Finnland im Digital Economy and Society Index (DESI) Vergleich 2022 führend, Deutschland liegt im Mittelfeld, gering über den europäischen Durchschnitt (https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/policies/desi). Finnlands Spitzenplatz kommt jedoch nicht von zufällig, sondern ist einer Strategie zu verdanken, die konkret 2007 formuliert wurde und die KANTA-Architektur definierte, die konsequent weiterentwickelt wurde. Kurz zusammen gefasst ist das KANTA-System ein von der finnischen Regierung entwickeltes elektronisches System für Gesundheits- und Sozialdaten. Es dient als zentraler Speicherort für elektronische Patientenakten und umfasst verschiedene Dienste, z. B. das Patientenportal MyKANTA, ein elektronisches Rezeptsystem und ein nationales Patientendatenarchiv. Derzeit nutzen 2,7 Mio. Finnen MyKANTA (Omakanta, www.mykanta.fi) mit 1,6 Mio. monatlichen Logins. 37% der Nutzer sind über 65 Jahre.

KI in aller Munde

Spannend wurde es bei dem Thema von KI-Anwendungen in der Medizin. Die überwiegende Anzahl der KI-Anwendungen dienen zur Entscheidungsunterstützung (clinical decision making). Zudem helfen diese maßgeblich das Monitoring von Patienten und können frühzeitig Warnungen vor drohenden Verschlechterungen auf Basis von Monitoring- und Labordaten gemäß definierten oder erlernten Algorithmen versenden. Weitere Anwendungen bestehen darin patientenindividuelle Vorschläge bezüglich der nächsten diagnostischen oder therapeutischen Schritte im Sinne einer personalisierten Therapie mit einfließen lassen.

Die Vivantes Klinikgruppe, bestehend aus 8 Kliniken in Berlin, stellte einen vielversprechenden Ansatz vor, wie KI-Projekte vor großflächiger Einführung geprüft und ihr Nutzen evaluiert werden können. Derzeit sind bereits 7 KI-Anwendungen in der Praxis etabliert, 1 KI-Projekt befindet sich im Roll-out und 2 weitere in der Vortestung.

Die Referenten Dr. Anna Bröhan und Gino Liguori, demonstrierten am Beispiel der medizinischen Bildauswertung von Frakturen, wie der Konzern prinzipiell mit KI-Applikationen verfährt. Die Vivantes-Kliniken haben hierzu ein vierstufiges Validierungskonzept zur strukturierten Auswahl und Bewertung von KI-Lösungen vor flächendeckender Einführung entwickelt:

  1. Identifikation und Vor-Test der KI-Anwendungen(en) über stratifiziertes Sample
  2. Pilotierung im klinischen Alltag in einzelner Klinik inkl. Quantitativer Validierung (Sensitivität & Spezifizität)
  3. Tiefergehende Analyse falsch positiver/negativer KI-Ergebnisse gemäß Goldstandard Radiolog:in
  4. Prozessevaluation durch gestaffelte Erhebung des Meinungsbilds der Anwendenden

Ein weiteres KI-Projekt stellte die österreichische KI-Firma „Predicting Health“ aus Graz vor. Die KI-Applikation "Personalised Risk Tool" soll durch einen KI-gestützten Risiko-Score Patienten hinsichtlich einer potenziellen Delir-Anfälligkeit screenen und so die Patientensicherheit verbessern bzw. das Risiko eines Delirs verringern. Das Tool wurde seit 2018 kontinuierlich weiterentwickelt, die Sensitivität und Spezifität für die Prognose eines drohenden Delirs werden vom Hersteller mit 83% respektive 73% gemessen am Gold-Standard der DOS-Skala (Delirium Observation Scale) angegeben. Das DOS-Instrument ist in der Anwendung jedoch aufwendiger und untersucherabhängig.

Fazit

Zusammengefasst beleuchtete die DMEA 2024 sowohl die bestehenden Herausforderungen als auch die potenziellen Fortschritte in der digitalen Transformation des deutschen Gesundheitswesens, mit einem besonderen Fokus auf Interoperabilität, Strategieentwicklung und KI-Anwendungen.

Krisenmanagement für Einrichtungen der Patientenversorgung

Krisenmanagement ist Risikomanagement

Vorsicht vor einfachen Lösungen

Für jedes komplexe Problem gibt es eine Lösung, die einfach ist, elegant und falsch.  (Journalist und Satiriker H.L. Mencken: “Prejudices: Second Series”, 1921)

Komplexe Systeme und Entscheidungssituationen in Unsicherheit

Karl Weick, James Reason und viele weitere Risikoforscher warnen eindringlich vor der Vereinfachung komplexer Fragestellungen. Der deutsche Psychologe Dietrich Dörner, emeritierter Hochschullehrer an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg erforschte, wie Emotionen sowie Absichten, aber auch die Art der Organisation für Entscheidungsfindungen, die getroffenen Entscheidung von Menschen beeinflussen. Dietrich Dörner nimmt hierzu in seinem Standardwerk „Die Logik des Mißlingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen“ ausführlich Stellung. Nach Dörner entwickeln komplexe Systeme eine Eigendynamik. Hinzu kommt, dass die Akteure keine vollständigen Kenntnisse aller Systemeigenschaften haben und falsche Annahmen darüber machen. Gerade die interdependenten Wechselwirkungen vieler Faktoren erschweren die Vorhersagemöglichkeit des Verhaltens komplexer Systeme. Komplexe adaptive Systeme zeigen nicht-lineare oder paradoxe Verläufe. Sie verändern sich mit der Zeit dynamisch, teils exponentiell, teils sprunghaft und sind stets mit großer Unsicherheit behaftet.

Mit diesem Wissen wird es leichter verständlich, wie schwierig es, in Krisenzeiten unter Stress und Zeitnot richtige Entscheidungen zu treffen. Häufig sind es Entscheidungen, deren Konsequenzen bzw. Auswirkungen erst zeitversetzt zu erkennen sind. So besteht die größte Herausforderung darin, mit einer begrenzten Anzahl an Informationen, also einem unvollständigen Lagebild, möglichst gut an die richtige Entscheidung heran zu kommen, stets im Wissen, dass diese Entscheidung stets im sich wandelnden Umfeld neu überprüft werden muss.

Entscheidungen treffen in vernetzten Systemen

Komplexe Systeme sind eingebettet in weitere komplexe Systeme, die sich gegenseitig beeinflussen, z. B. Krankenhäuser stehen in Wechselwirkung mit dem politisch-öffentlichen Bereich des Gesundheitswesens und dem Staat. Es ist deshalb geboten, sich bei einer Krise aufgrund Unkenntnis aller Informationen eine Strategie des „sich Herantasten an das komplexe Problem“ zu eigen zu machen. Ähnlich wie bei der Versorgung von schwerkranken Sepsispatienten, bei denen behutsam Heilversuche gestartet werden, basieren Krisen-Entscheidungen zum einen auf bereits bewährte Evidenz, zum anderen auf ein intuitives Erfahrungswissen von Experten und Krisenmanager. Aktionismus und fehlverstandenes Heldentum sind hier äußerst schlechte Ratgeber.

Nach der Krise ist vor der Krise

Krisen sind unvermeidbar und können jederzeit eintreten. Ist eine Krise überstanden, steht die nächste schon vor der Tür. Diese Tatsache darf jedoch nicht zu Fatalismus und Phlegma führen, sondern vielmehr zu der Einsicht, dass ein zeitgemäßes kompetentes Krisenmanagement ein wichtiger Bestandteil des Managements einer Gesundheitseinrichtung sein muss.
Mit hoher Professionalität und der ihr gebührenden Entschlossenheit sollte die Aufgabe beherzt angegangen werden. Notwendig ist, ein gut aufgestelltes Team aus Experten und ein kompetenter Krisenmanager*in. Alle notwendigen Entscheidungen sollten auf Augenhöhe und nach vorhandener Kompetenz getroffen werden und nicht nach hierarchischem Rang.

Einteilung von Krisen

  • Auslöser/Ursache: Interne oder externe Auslöser oder Kombination aus beiden, natürliche Krisen (z. B. Naturkatastrophen), menschengemachte Krisen (z. B. Konflikte, wirtschaftliche Krisen)
  • Bedrohungsstärke/Ausmaß: Große Krise wie Pandemien, Kriege, Klimaextreme, Energieengpässe, kleinere Krisen bezogen auf die Region, die Einrichtung sowie nach Schadensausmaß potenziell bestandsgefährdend, Auswirkungen auf Menschen, Sachwerte, Umwelt
  • Zeitvorlauf/Reaktionszeit: Kein Vorlauf, ultrakurz (Minuten bis Stunden), Tage und Wochen, chronische Krise
  • Abwehr der Krise: Mit eigenen Bordmittel oder nur unter Inanspruchnahme zusätzlicher externer Hilfe

Die Zuweisung der Aufgaben des Krisenmanagements folgt einem klassischen Phasenmodell:

  • Präventives Krisenmanagement mit Etablierung vorbeugender Maßnahmen für potenzielle Krisen
  • Antizipativ-reaktives Krisenmanagement mit frühzeitiger Erkennung latenter Bedrohungsszenarien und Initiierung erster Abwehrmaßnahmen
  • Akutes Krisenmanagement mit der Bewältigung stattfindender Krisen

Vier Kardinalfehler des reaktiven Krisenmanagements

  1. Die Krise als solche nicht zu erkennen bzw. zu negieren. Häufig wird das Potenzial der Bedrohung unterschätzt. So werden aus „managebare“ Krisen unkontrollierte Flächenbrände. Es geht wertvolle Zeit verloren, um wichtige Kompetenzen zur Bewältigung der Krise zu rekrutieren. Analog einem Schwellbrand, der unangenehm riecht, das wahre Bedrohungspotenzial jedoch nicht erkannt wird, bis die Flammen lichterloh brennen.
  2. Die Krise kleinzureden und nicht mit der entsprechenden Ernsthaftigkeit oder dem notwendigen Einsatz von Mitteln zu reagieren. Analog einem Hausbrand, den man vermeintlich nur mit dem eigenen Feuerlöscher zu löschen versucht und das Beste hofft, jedoch die Feuerwehr nicht ruft. Häufig werden unzureichende Ressourcen zur Verfügung gestellt, vermeintlich um Geld zu sparen, was häufig das Gegenteil bewirkt. Die eigene Kompetenz wird überschätzt, respektive die Kompetenzen der anderen unterschätzt.
  3. Die Krise fachlich nicht adäquat zu managen, sondern sowohl fachliche wie kommunikative Fehlentscheidungen zu treffen. Hinzu kommt fehlende Flexibilität und Kreativität im Finden von Abwehrstrategien bzw. Lösungen. Man meint, alles selbst entscheiden zu können oder zu müssen. Hierarchie zählt mehr als Erfahrung und Kompetenz. Es werden fachlich Unerfahrene oder Mitarbeiter*innen mit fehlendem Spezialwissen, z. B. für Cyberattacken, Stromausfälle, Wasserschäden, Austritt von Gefahrenstoffe, terroristischen Gefahren, Naturgefahren, u.v.m., eingesetzt. Es überwiegt Aktionismus anstatt planvolles, rationales Handeln.
  4. Die Krise nicht adäquat zu kommunizieren. So können fachlich gut gemanagte Krisen zu sekundären Schäden führen, selbst wenn alles vermeintlich richtig gemacht wurde. Die Innendarstellung des Krisenmanagements gegenüber den Mitarbeitern und Führungskräften ebenso wie die Außendarstellung (public relation) gegenüber den Stakeholdern und der Bevölkerung wird mangelhaft durchgeführt oder vernachlässigt. Dies kann zu einem Reputationsschaden führen, der in weiterer Konsequenz zu einem wirtschaftlichen Schaden führt. In diesem Kontext fällt auch die fehlende Aufarbeitung des Krisenmanagements und fehlende Kommunikation der Lektionen aus der stattgefundenen Krise.

Präventives Krisenmanagement als klassische Risikomanagementaufgabe

Die Geschäftsführung ist verantwortlich für die Einrichtung eines kompetenten präventiven Krisenmanagements. Be prepared for the unexpected. Diesen Widerspruch gilt es auszuhalten und mit der Ambiguität zu leben. Zynisch wäre es, aufgrund dieser Ambiguität nichts zu unternehmen und lediglich auf das Beste zu hoffen.
Krisenmanagement ist Teamarbeit, Kommunikation und Vernetzung. Krisenmanagement ist Business Continuity Management. Ein Krankenhaus kann es sich nicht erlauben, nicht betriebsbereit zu sein. Aufgrund dessen müssen Betriebsausfälle so kurz und der Schaden so gering wie möglich gehalten werden.

Präventives Krisenmanagement ist Teil des Risikomanagements, da potenzielle Krisen große Risiken für den Betrieb, die Mitarbeiter*innen und Patient*innen darstellen. Jedes Risiko ergibt sich aus der Wechselwirkung zwischen der Gefahrenlage und Verwundbarkeit gegenüber dieser Gefahr. Die Verwundbarkeit oder fehlende Resilienz ist wiederum das Ergebnis aus der Funktionsanfälligkeit der Prozesse in einem Krankenhaus. Hierzu zählen sowohl die primär klinischen Prozesse der Patientenversorgung, ebenso wie die technischen und logistischen Prozesse zur Aufrechterhaltung der Betriebsfähigkeit.

Angesichts der Tatsache, dass naturgemäß nicht alle möglichen Krisen vorhersehbar sind, ist es sinnvoll, exemplarische Risiken als repräsentative Krisenbeispiele mithilfe von Szenarien und Simulationen zu identifizieren und anhand von Risikoanalysen deren Bedrohungspotenzial zu bewerten sowie präventive Gegenmaßnahmen zu etablieren.

Themenfelder für Szenarien und Simulationen

  • Sicherstellung der Patientensicherheit
  • Technische Sicherheit (Safety)
  • IT-Sicherheit (Cybersecurity)
  • Schutz vor physischen Attacken (Security).

Daraus ergeben sich Präventionsmaßnahmen auf technischer, organisatorischer und personeller Ebene.
Der Krankenhausalarm und – Einsatzplan (KAEP, Link zum Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe) ist der wohl wichtigste Baustein des Krisenmanagements und fasst viele Aspekte des Krisenmanagements zusammen. Im KAEP werden der oder die verschiedenen Krisenmanager bzw. Teamleiter, der situationsspezifische Krisenstab, die Räumlichkeiten des Krisenstabs, die verschiedenen Kommunikationsformen, Schwellenwerte, Zeitvorgaben, Ressourcen und Sofortmaßnahmen der Erstbetroffenen festgelegt. Zudem sollten auch Handlungsoptionen und Spielräume für Flexibilität benannt werden.
Wer in den Krisenstab gehört, hängt von der Expertise und der Rolle im Betrieb ab. Krisenkompetenz ist mehr als nur fachliches Wissen. Gute Krisenmanager*innen verfügen über starke Führungsqualitäten unter Stress und hohes menschliches Einfühlungsvermögen, komplexe bzw. diffuse Lagebilder können rasch analysiert werden um früh in aktives Handeln zu kommen. Sie erkennen schnell Überlastungssituationen der Versorgungskapazität ebenso wie potenzielle Einschränkungen der Versorgungsmöglichkeiten und reagieren schnell und zielgerichtet. So müssen z. B. rechtzeitig Intensivstationen evakuiert, zusätzliche Mitarbeiter aus dem „dienstfrei“ rekrutiert, externe Kräfte hinzugezogen oder erste Statements für die Presse abgegeben werden. Der oder die Krisenmanager*innen benötigten dafür die entsprechenden Entscheidungsbefugnisse.

Kernaufgaben und Verantwortlichkeiten des Krisenmanagers

  • Aufbau und Steuerung einer Arbeitsgruppe und verschiedener situationsbedingter Krisenreaktionsteams
  • Design, Durchführung und Auswertung von Risikoanalysen anhand differenzierter Szenarioanalysen und Simulationen sowie Auswertung und Aufarbeitung stattgefundener Krisen in steter Zusammenarbeit mit dem Krisenteam
  • Erarbeitung von Strategien zur Risikominimierung und Krisenprävention
  • Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur Beseitigung von Schwachstellen oder Störungen der Kernprozesse eines Krankenhauses und Etablierung von Redundanzsystemen zur Aufrechterhaltung einer Notfallversorgung
  • Aufbau eines Netzwerkes mit externen Hilfskräften und wichtigen Stakeholdern
  • Repräsentanz des Krankenhauses nach außen in Angelegenheiten der Alarm- und Einsatzplanung
  • Regelmäßiges Reporting zum Status des Krisenmanagements an die Geschäftsführung zur Information, Genehmigung und Inkraftsetzung von Maßnahmen sowie Ressourcenallokation
  • Anpassung an neue Gegebenheiten und an den jeweiligen Stand der Wissenschaft und Technik
  • Kontinuierliche Evaluation des Krisenmanagements

Fazit

Auch wenn die Kosten für ein effektives Krisenmanagement sowie Risikomanagement primär viele Geschäftsführungen abschrecken, zeigt die Erfahrung, dass ein effektives Krisenmanagement ebenso wie ein gutes Risikomanagement sich langfristig lohnen. Als nützlicher Nebeneffekt werden die Prozesse, insbesondere die klinischen Kernprozesse einer gründlichen Evaluation auf Resilienz bzw. Patientensicherheit überprüft, was die Abläufe in der Regel transparenter und kosteneffizienter gestaltet. Insofern sollte ein modernes und effektives Krisenmanagement stets eingebettet sein in ein ganzheitliches Managementsystem.

Richtige Entscheidungen treffen – Der Faktor Mensch in der Patientenversorgung

Richtige Entscheidungen treffen - Der Faktor Mensch in der Patientenversorgung

Der Menschliche Faktor

Irren ist menschlich: In der Medizin wird geschätzt, dass 70 –80 % aller Fehler auf menschliche Ursachen – den Faktor Mensch – zurückzuführen sind. In beiden in nächsten Absatz aufgeführten Fällen finden sich Merkmale typischer menschlicher Fehlentscheidungen. Retrospektiv wären beide Diagnosen durch den Einsatz geeigneter Untersuchungen und vorhandener apparativer Diagnostik leicht zu erkennen gewesen. Doch was sind die Ursachen für solch gravierende Fehlentscheidungen? Die Luftfahrt hat seit den späten 1970er Jahren erkannt, dass die meisten Flugunglücke nicht durch technisches Versagen entstehen, sondern durch menschliche Fehlurteile, respektive fehlerhafte Handlungen. Dennoch wird auch heute noch den Medizinstudierenden und Pflegeschülern fast ausschließlich medizinisches Fachwissen vermittelt. Kompetenzen, um die eigene Fehleranfälligkeit und Risiken für Fehlurteile frühzeitig zu erkennen, sowie richtige Entscheidungen in komplexen Situationen, mit nur wenigen Informationen, zu treffen, werden kaum vermittelt.

1. Fallbeispiel
Verspätete Therapie: Ein 54-jähriger alkoholisierter Patient suchte am Donnerstagabend die Notfallambulanz wegen Nackenbeschwerden und Unwohlsein auf. Als weitere Beschwerden gab er ein Kribbeln im rechten Daumen an. Es fand sich eine Prellmarke an der Stirn und eine etwas eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Er roch stark nach Alkohol, sein Blutalkoholspiegel betrug 1,5 Promille. Der Patient wurde stationär auf die internistische Station aufgenommen. Im Laufe des Wochenendes entwickelte der Patient zunehmend Lähmungen beider Arme. Durch einen hinzugerufenen Neurologen und Unfallchirurgen wurde eine instabile Halswirbelfraktur auf Höhe C6/7 festgestellt. Noch am selbigen Tag wurde die HWS des Patienten osteosynthetisch stabilisiert. Es blieben permanente Lähmungserscheinungen beider Arme.

2. Fallbeispiel
Tödliche Fehldiagnose: Ein 5-jähriges Kind mit Migrationshintergrund verstirbt zuhause, nachdem die Eltern am Abend zuvor die Notaufnahme mit dem Kind aufgesucht hatten. Die Eltern gaben an, dass es mehrmals erbrochen und Bauchschmerzen habe. Es wurde mit Schmerzzäpfchen versorgt und wieder nach Hause entlassen. Als Todesursache wird eine nicht erkannte Blinddarmperforation vermutet, die von der Notaufnahme-Ärztin eines mittelgroßen Krankenhauses nicht erkannt wurde. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung. Die Assistenzärztin wurde freigestellt.

Ökonomischer Druck und Ressourcenknappheit

Hauptursachen für Fehler und Regelverstöße liegen in der Verdichtung der Arbeitsprozesse und Zeitknappheit, oftmals ungeregelten Schnittstellen und unklaren Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Fachprofessionen. Überfüllte Notaufnahmen, 10 und mehr Bereitschaftsdienste im Monat, der Mangel an qualifizierten Personal aufgrund Krankheit und Fluktuation verschärfen diese Problematik. Fehlen wichtige diagnostische Ressourcen wie ein 24-Stunden verfügbares CT oder wird der Zugriff auf Patientendaten durch ein umständliches Krankenhaus-Informationssystem erschwert, werden Befunde primär nicht erhoben oder übersehen.

Entscheidungen treffen in Unsicherheit

Über allem medizinischen Handeln schwebt stets das Damoklesschwert der Unsicherheit. Anders als in der Luftfahrt fehlen dem Arzt häufig eindeutige Indikatoren und Parameter, die ihm zweifelsfrei die diagnostische Sicherheit geben, was die Ursache der Patientenbeschwerden betrifft. Differentialdiagnostisches Vorhergehen ist stets angebracht, jedoch ressourcenintensiv und aufgrund fachlicher Subspezialisierung oft nicht umzusetzen. So werden aus verständlichen Gründen der Ökonomie Entscheidungen vertagt bzw. Untersuchungen unterlassen. Ressourcenknappheit (personelle, apparative, zeitliche) und ökonomische Zwänge verleiten den Arzt zur Anwendung von Erfahrungswissen bzw. Heuristiken. Heuristiken suggerieren oft eine Scheinsicherheit, die in manchen Fällen in Folge von Fehlentscheidungen zu tragischen Konsequenzen führen.

Kognition, Automatismen & Heuristiken

Urteilsheuristiken und kognitive Verzerrungen

Die Erkenntnisse aus der Psychologie haben uns zu verstehen gegeben, dass unser Denken nicht frei von Fehlurteilen ist. Daniel Kahnemann, US-amerikanischer Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreisträger erforschte über Jahrzehnte menschliche Urteilsheuristiken und kognitive Verzerrungen. Gerd Gigarenzer, deutscher Psychologe und Direktor der Abteilung „Adaptives Verhalten und Kognition“ am Harding-Zentrum für Risikokompetenz des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, sowie viele weitere Psychologen haben die menschliche Urteilsfindung untersucht.
Grob vereinfacht beschrieben besteht gemäß Kahnemann unsere Denkfunktion aus zwei Denkmustern. Dem System 1 oder dem schnellen Denken, welches assoziativ, effizient und effektiv ist. Es sucht nach Mustern, Kohärenzen, verarbeitet Eindrücke schnell und macht Vorschläge. Es überzeugt zudem das System 2, welches i.d.R. diese Vorschläge annimmt. Das System 1 begibt sich häufig auf die Suche nach Ähnlichkeiten mit Stereotypien und tut sich schwer mit der Verarbeitung von statistischen Fakten. Dementsprechend ist das schnelle Denken sehr anfällig für systemische Fehler und im ständigen Konflikt zwischen Intuition und Logik. Das System 2 oder das langsame Denken baut auf logischem Denken auf. Es funktioniert langsam und ist oftmals anstrengend. Es erfordert Gedankenkonstruktionen und die Kombination von Informationen. System 2 benötigt viel Selbstkontrolle und Selbstreflexion und übernimmt bei erkennbaren, drohenden Fehlern das Kommando, indem es das System 1 überstimmt. Es ist schlichtweg das Gegenmittel für Fehlentscheidungen des System 1.

Heuristik–Fallen

Es liegt auf der Hand, dass Situationen mit hohem Handlungsdruck das Erzwingen schneller Lösungen durch Investition in einfache Lösungen begünstigt. Die langwierige unbequeme Suche nach nahezu sicheren Antworten und nach spezifischen, weil seltenen Lösungen, wird in Bevorzugung einer bequemen Antwort und „Routine-Lösung“ (Heuristik) aufgegeben. Die Antwort ist dann einfach, schnell aber möglicherweise falsch.
Verhaltensforscher haben eine Vielzahl möglicher heuristischen Verzerrungen und Ursachen für Fehlentscheidungen identifiziert. Einige Wichtige seien hier stichpunktartig aufgelistet.

Verfügbarkeitsheuristik

Nach dem Hammer – Nagel – Prinzip werden Diagnosen bevorzugt innerhalb des eigenen Beurteilungsrahmens gestellt. Der Rückenschmerz kommt für den Orthopäden von der Wirbelsäule, für den Internisten ist er ein Zeichen des Herzinfarkts und für den Gefäßchirurgen das pulsierende Aortenaneurysma. So bleibt jeder Arzt in seinem eigenen fachlichen Denkrahmen verhaftet, andere Möglichkeiten, außerhalb des eigenen Erfahrungsrahmens werden nicht berücksichtigt.

Affektheuristik

Emotionen wie Furcht, Zuneigung und Abneigung können Anlass für Fehlentscheidungen sein. Gut gelaunt und entspannt wird vermutlich dem anstrengenden Untersuchungsvorgang des Patienten eine intensivere Aufmerksamkeit geschenkt, als wenn man übermüdet, hungrig oder nach einem Streit mit einem Kollegen „ausgepowert“ sein Tagesprogramm abspult. In der Luftfahrt spricht man von folgenden 5 gefährlichen Grundhaltungen, die die Fehleranfälligkeit und Tendenz zu Regelverstößen deutlich erhöhen.
Es sind: Fehlende Reflexions- und Kritikfähigkeit, Impulsivität, Gefühl der Unverwundbarkeit, Macho-Gehabe und Resignation

Ankerheuristik

Dieser Priming – Effekt durch suggestive „plausible Hinweise“ führt dazu, dass der Arzt sich unwillkürlich nur auf einem bestimmten, eingeschränkten Bereich begrenzt (sich an einen Anker halten). So können z. B. aufgrund der Fehleinschätzung eines Notarztes bei der Einweisungsdiagnose wichtige Differentialdiagnosen erst gar nicht weiter verfolgt werden. So wurden z. B. die massiven Blutdruckschwankungen bei einem teils somnolenten Patienten vom Notarzt als Herzrhythmusstörung interpretiert und in der Klinik als solche weiter behandelt und das lebensbedrohliche dissezierte Aortenaneuryma lange Zeit übersehen.

Selbstüberschätzung (Selfconfidence) und Confirmation Bias

In diesem Fall werden den eigenen Entscheidungen und Handlungen meistens zu hohe Erfolgschancen zugeschrieben, während den Meinungen Anderer weniger Gültigkeit zugesprochen wird. Durch dieses übermäßige Vertrauen in die Richtigkeit der eigenen Entscheidungen können autoritätsbasierte Entscheidungen zu „strong but wrong decisions“ führen. Argumente für die eigene Entscheidung werden bevorzugt, Gegenargumente unter den Tisch gekehrt. Die Risiken der eigener Entscheidungen werden dabei ebenso unterschätzt bzw. ausgeblendet, die Risikobewertung fremder Entscheidungen fällt dagegen in der Regel hoch aus.

Konsistenzbestreben

Einem ähnlichen Mechanismus folgt das natürliche Bestreben konsistent mit einmal getroffenen (eigenen) Entscheidungen zu handeln. Kognitive Dissonanz wird möglichst vermieden und es besteht die Tendenz Informationen zu ignorieren, die nicht zum bisherigen Vorgehen („disconfirming evidence“) passen.

Framing

Die Art und Weise wie Informationen präsentiert werden, der Bezugsrahmen, hat großen Einfluss darauf wie diese Informationen interpretiert werden. Ähnlich der Ankerheuristik und dem Kontrastprinzip können dadurch neue Fakten und Informationen durch Setzen in einen fixen Kontext (Bezugsrahmen) verharmlost oder überbewertet werden.

Fehleranfälligkeit des menschlichen Gedächtnisses

Zu den Heuristiken kommt noch die Tatsache, dass das menschliche Gehirn fehlende Informationen und Erinnerungslücken ergänzt, ohne dass uns dies bewusst wird. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass rund 70% der Befragten falsche Zeugenaussagen bei einer Täteridentifizierung machten. Fehlende Informationen und Erinnerungslücken werden schlichtweg mit falschen Erinnerungen gemäß eigener Plausibilitätsüberlegungen aufgefüllt. Das Gehirn greift hierfür besonders auf eigene Annahmen, Erfahrungen und unbewusste Vorurteile zurück. In ihrem kürzlich erschienen Buch „The Memory Illusion“ konnte die Psychologin und Kriminologin Julia Shaw aufzeigen, dass es durch eine manipulative Gesprächsführung möglich ist, einzelne Erinnerungen umzuformen und gänzlich in ihr Gegenteil umzuprogrammieren.

 

Das Shell Modell

In Erkenntnis und Akzeptanz der menschlichen „Schwächen“ im Sinne eines „errare humanum est“ wurde in den letzten Jahrzehnten das Shell – Modell entwickelt. Das SHELL-Modell zeigt den Menschen (Liveware Individuum) als zentralen Akteur in Interaktion mit dem Arbeitsumfeld, bestehend aus den Komponenten S (Software, z. B. Richtlinien, Verfahren), H (Hardware, z. B. Instrumente, Werkzeuge), E (Enviroment, z. B. finanzielle Bedingungen) und L (Liveware Team), den anderen beteiligten Individuen. Aus der Güte der Passung zwischen L, dem zentralen Akteur mit seinen psychischen und physischen Eigenschaften (wie z. B. Sensorik, Motorik, Informationsverarbeitung, Bedürfnisse, Befindlichkeit, Körpermaße) und den anderen Systemkomponenten resultiert letztlich die Effizienz der Arbeitsleistung.

Systemfaktoren und individuelle Faktoren

Die Herausforderung an das Krankenhausmanagement besteht deshalb gerade darin, das Arbeitsumfeld so zu gestalten, dass der Mensch darin sicher und möglichst fehlerfrei arbeiten kann. Bei der Anschaffung der Arbeitsmaterialien (Hardware) ist auf die Nutzerfreundlichkeit zu achten. Medizingeräte müssen verlässlich funktionieren und leicht zu bedienen sein. Das Arbeitsumfeld (Liveware Team) sollte stressfrei gestaltet sein, die Dienstpläne so konzipiert sein, dass ein ausgewogener Qualifikation-Mix aus erfahrenen und unerfahrenen Mitarbeitern gewährleistet ist, sowie alle notwendigen Kompetenzen vor Ort sind oder schnell hinzugerufen werden können. Die Prozesse (Software) müssen klar definiert, effizient und jedem klar vermittelt sein. Die Mitarbeiter müssen vor Überlastungen geschützt werden, das Arbeitsumfeld motivierend gestaltet sein und eine kontinuierliche fachliche und persönliche Weiterentwicklung ermöglichen. Langfristig ist auf die Etablierung einer hochwertigen Sicherheits- und Vertrauenskultur abzuzielen, die das Ergebnis ethisch korrekter Einstellungen und Verhaltensweisen ist.

Systematisierung der Entscheidungsprozesse

Fordec

Ein besonders hilfreiches Verfahren für gute Entscheidungsprozesse kommt aus der Luftfahrt. Idealer Weise sollten sich alle Mitarbeiter damit vertraut machen. Das FORDEC- Verfahren hilft dabei, Entscheidungsprozesse, insbesondere in zeitkritischen Situationen, systematisch abzuarbeiten und besteht aus 5 Schritten.

  • F  FACTS – Sammeln der Fakten
  • O OPTIONS – Prüfen der Optionen
  • R RISKS AND BENEFITS – Abwägen der Risiken und Vorteile
  • D DECISION – Zu einer Entscheidung kommen
  • E EXECUTION – Ausführen der Entscheidung
  • C CROSS-CHECK – Kontrolle, ob die Entscheidung zum erwünschten Ziel geführt hat
    und ggf. Korrektur der Entscheidung

Choosing Wisely Initiative

Die Stiftung des American Board of Internal Medicine (ABIM) verfolgt seit 2012 mit der mittlerweile weltweiten Aktion „choosing wisely“ (www.choosingwisely.org) einen kritisch hinterfragenden Ansatz auf der Suche nach der Ratio (Logik) medizinischer Entscheidungen. Nach den beiden Leitsätzen „weniger ist mehr“ und „Dinge, die wir ohne Grund tun“ werden die Mediziner aufgefordert, zu reflektieren, welche Entscheidungen wirklich auf medizinischer Evidenz und welche auf unreflektiertem, schnell verfügbarem „Routinewissen“ (Heuristiken) basieren, um dadurch unnötige Untersuchungen und Therapien zu vermeiden.

Fazit:

Da wir nie vollkommen sicher sein können, wo genau die (medizinische) Wahrheit liegt, tun wir gut daran, Sicherheitsmechanismen in unsere Prozesse einzubauen, die unsere Fehleranfälligkeit reduzieren und unsere Diagnosegenauigkeit sowie Therapie optimieren. Entscheidend ist es zu akzeptieren, welch bedeutende Rolle der Faktor Mensch dabei spielt. Nur durch den Einbau von Sicherheitsredundanzen, z. B. durch das regelhafte Einholen von Zweitmeinungen und durch die Methodik einer partizipativen Entscheidungsfindung, wie sie z. B. im Rahmen onkologischer Fallkonferenzen seit Jahren erfolgreich praktiziert wird, können wir sicherer und somit besser werden. Ein klinisches Risikomanagement berücksichtigt solche „soft skills“ und ermöglicht deren Integration in den praktischen Klinikalltag.

9 Grundsätze für bessere Entscheidungen

  • Bleibe stets selbstkritisch und reflektiere deine Entscheidungen und dein Handeln
  • Unterstütze eine effektive interprofessionelle und interdisziplinäre Teamarbeit
  • Etabliere lebenslanges Lernen in der Arbeit
  • Stelle sicher, dass Technologie dein Arbeiten unterstützt bzw. verbessert und nicht unsicherer macht
  • Sprich über deine Fehler und lerne daraus
  • Installiere ein Risikomanagement-System und analysiere die Systemschwächen der Organisation
  • Schaffe Anreize für ein ethisch basiertes Arbeiten und belohne die Ehrlichen
  • Stelle adäquate Ressourcen und ausreichend kompetentes Personal zur Verfügung, um die Arbeit qualitativ hochwertig und sicher verrichten zu können

 

Gerne unterstützen wir Sie bei Fragen zur Optimierung des Human Faktors Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Kontaktieren Sie uns unter Email: ae@euteneier-consulting.de

Wir bieten in regelmäßigen Abständen (Inhouse)-Ausbildungen und (Inhouse)-Seminare zur Verbesserung des Human Faktors. Schauen Sie auf unsere Webpage unter der Rubrik Akademie

Wie Mitarbeiter stressresistenter werden

Wie Mitarbeiter stressresistenter werden

Der richtige Umgang mit Stress

Der richtige Umgang mit Stress wird für den einzelnen Mitarbeiter immer bedeutsamer, die zunehmende Arbeitsverdichtung und Personalknappheit, gerade in klinischen Organisationen wird sich aufgrund des bestehenden wirtschaftlichen Drucks in absehbarer Zeit nicht ausreichend verbessern. Die Arbeitsbedingungen wie Zeitknappheit, breiteres Aufgabenspektrum, hohe Verantwortung und der omnipräsente Kostendruck können Überforderung und Burnout begünstigen, sie sind jedoch nicht die Ursache dafür. Ansonsten wäre ein Burnout aufgrund der genannten Faktoren bei jedem Mitarbeitenden früher oder später zu erwarten, dies ist Gottseidank nicht der Fall. Es gibt Menschen, die mit Stress und Belastungen besser umgehen können als andere.
Diese Fähigkeit des Umgangs mit Stress, auch Resilienz genannt, ist eine individuelle Kompetenz und lässt sich als solche auch entwickeln und trainieren. Für den Einzelnen wird es immer wesentlicher, sich um seine eigene Stressbewältigung aktiv zu kümmern. Wenn dies nicht geschieht, verstärkt sich der negative Kreislauf, führt weiterhin zu überlasteten Mitarbeitenden mit abnehmender Produktivität und Arbeitsausfällen, was wiederum durch die verbleibenden Mitarbeitenden abgefedert und kompensiert werden muss. Die jährlichen krankheitsbedingten Fehltage im Jahr 2016 betrugen 15,2 Tage pro Erwerbstätigem. (Quelle: TK-Gesundheitsreport 2017, Stichprobe von 7,3 Millionen Erwerbspersonen). Das Risiko einer Herzerkrankung wird durch ungeeignete Reaktionsweisen auf Stress (z.B. ungesunde Ernährung, weniger Sport, vermehrtes Zigarettenrauchen, schlechter Schlaf und höherer Alkoholkonsum) und durch Stress nachweislich noch weiter gesteigert. Stress gilt als Risikofaktor für Herz-Kreislauf Erkrankungen, der Zusammenhang zwischen Herzinfarkten und Stressbelastung ist seit Jahrzehnten bekannt. Die Anzahl der jährlichen Herzinfarkte ist immer noch sehr hoch, sie lag im Jahr 2016 in Deutschland bei 219.000 pro Jahr (Quelle: Deutsche Gesellschaft für Kardiologie). Die positiven Auswirkungen von Stress werden zwar immer reflexartig erwähnt und als natürliche Reaktionen des menschlichen Organismus beschrieben, diese sind jedoch im Vergleich zu den negativen und vor allem langfristigen Auswirkungen und Konsequenzen von Stress, äußerst gering.
Der in den letzten Jahren häufig beschriebene Begriff des „Burnouts“ ist als Endpunkt von diversen organisationalen Komponenten und individuellen Reaktionsmustern auf die Arbeitsanforderungen im Gesundheitswesen zu sehen. Für den bereits seit Jahren bestehenden, gravierenden Fachkräftemangel in der Pflege und den ärztlichen Berufen wird auf verschiedenen Ebenen nach Lösungen gesucht, bis es jedoch soweit ist, dass diese greifen, kann es noch viele Jahre dauern.
Daher braucht es ein höheres Maß an Eigenverantwortung und Eigeninitiative der einzelnen Mitarbeitenden, um geeignete Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stress zu erwerben und für sich selbst individuelle Kompetenzen zur Stressbewältigung am Arbeitsplatz zu stärken. Diese können gelernt und trainiert werden, zahlreiche Ansätze und Methoden haben sich in Studien als effektiv erwiesen.

Ursachen hoher Stressbelastung:

Die zunehmende Überlastung der Mitarbeiter lässt sich auch in anderen Branchen, insbesondere in anderen sozialen Berufen erkennen, in Gesundheitseinrichtungen ist sie durch ein Zusammenwirken vieler negativer Faktoren jedoch besonders stark ausgeprägt. Zu den Hauptursachen tragen die organisationalen Arbeitsbedingungen bei. Gestiegene Flexibilitätsanforderungen, zu wenig Zeit für die Erledigung der einzelnen Tätigkeiten und permanenter Zeitdruck sind nur einige der Aspekte mit denen Mitarbeitende zurechtkommen müssen. Personelle Unterbesetzung und schlechte oder ineffiziente Arbeitsabläufe führen in Krankenhäusern in manchen Bereichen sogar dazu, dass an vielen Tagen keine oder nur stark verkürzte Pausen gemacht werden können. Dies stellt z. B. bei ärztlichen Tätigkeiten in den Notfallambulanzen von Schwerpunkt- oder Maximalversorgern nahezu den Normalfall dar.
Der ständige Zeitmangel führt zwangsläufig auch zu weniger zwischenmenschlichen Interaktionen am Arbeitsplatz, was meist in einer schlechteren Kommunikationsqualität resultiert. Dies kann sich als potentielle Fehlerquelle auch auf die Patientensicherheit auswirken und unnötige, weil vermeidbare Kosten nach sich ziehen.
Gerade Menschen, die in sozialen Berufen tätig sind, bringen häufig noch eine weitere persönliche Disposition mit, durch die es ihnen schwerer gelingt sich abzugrenzen und auf die eigenen Ressourcen zu achten. Der Wunsch, in einem sozialen Umfeld mit Menschen zu arbeiten, durch die eigene Tätigkeit anderen Menschen zu helfen oder sie zu unterstützen, birgt einen weiteren Risikofaktor für die stressbedingte Überforderung. Die Identifikation mit der Aufgabe und die gefühlte persönliche Verantwortung in der Patientenversorgung sind sehr hoch. Häufig sind es daher genau diese Mitarbeitenden, die sprichwörtlich auf ihrem Rücken, organisationale Defizite wie Personalknappheit, Ausweitung des Aufgabenspektrums, Übernahme fachfremder administrativer Tätigkeiten, kompensieren.
Zu den intrapersonellen Themen, die ein Risiko von psychischen Belastungsstörungen darstellen, gehören die zu geringen Entscheidungsfreiräume (Stichwort mangelnde Autonomie), und das hohe Maß an Fremdbestimmung insbesondere durch tätigkeitsfremde Vorgaben und überbordende Administration. Zu wenig Anerkennung und Lob für die geleistete Arbeit sowie mangelnde Wertschätzung im Umgang miteinander verringern die empfundene Zufriedenheit mit der Arbeit.
Wenn dazu noch die eigene hohe Anspruchshaltung (Innere Antreiber, z. B. sei perfekt, zeig keine Schwäche, usw.) und eine geringe Fähigkeit „Nein zu sagen“ dazukommen, ist das Risiko, in Richtung eines Burnouts zu steuern, sehr hoch.

Folgen hoher Stressbelastung:

Die mittel- und langfristigen Folgen der permanenten Überforderung von Mitarbeitenden haben Auswirkungen in drei Bereichen.

  • Persönliche
  • Ökonomische
  • Gesellschaftliche

Persönliche Auswirkungen

Unsere berufliche Tätigkeit ist zu einem wesentlichen Teil für unserer Lebensqualität mitausschlaggebend. Die Identifikation mit der eigenen Leistung und dem Inhalt der Tätigkeit bringen uns Freude und Sinnempfinden, es stärkt unseren Selbstwert und trägt dazu bei, unsere Identität zu formen und aufrechtzuerhalten.
Wenn diese Folgen ausbleiben oder sogar umgekehrt werden, indem wir unsere Arbeit als Quelle für Frustration und Erschöpfung erleben, können wir dies je nach Persönlichkeitstyp unterschiedlich lange kompensieren. Nachteilige Reaktionen und Symptome bleiben jedoch bei keinem Menschen aus. Sie setzen eventuell nicht in der gleichen Reihenfolge oder zum gleichen Zeitpunkt ein. Physische und psychische Erschöpfung führt zu innerem Rückzug bis hin zur inneren Kündigung. Zunehmend kann sich Gleichgültigkeit durch eine Abnahme von Empathie für andere entwickeln, beides eine Reaktion als Symptom von Überforderung.
Zu den körperlichen Reaktionen gehören verminderte Energie und Leistungsfähigkeit, andauernde Müdigkeit, Schwächung des Immunsystems und keine Kraft nach der Arbeit etwas zu unternehmen. Dadurch wird es unwahrscheinlicher, dass Stress durch positive Aktivitäten abgebaut werden kann und es zur notwendigen Regeneration kommen kann.
Unter den psychischen und kognitiven Reaktionen finden sich nachlassende Konzentration, Vergesslichkeit, eine verringerte innere Anteilnahme am Geschehen rings um einen herum, Gereiztheit, möglicherweise die Entwicklung einer Depression.
Zusammenfassend, es kommt zu einer abnehmenden Lebensqualität und verlorener Lebensfreude.

  • Kognitive Ebene: Denk- und Wahrnehmungsprozesse einschließlich deren Bewertung Selektive Wahrnehmung, verallgemeinern, katastrophisieren, Fatalismus
  • Emotionale Ebene: Gefühle und Befindlichkeiten Innerer Rückzug, Versagensangst, „keine Schwäche zeigen“, Gereiztheit, Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit
  • Körperliche Ebene: Unbewusste Reaktionen Vegetative und hormonelle Reaktionen z.B. Bluthochdruck, Ausschüttung von Cortisol Adrenalin, bewusste Reaktionen Muskuläre Verspannungen, Schwäche, Kopfschmerz, Müdigkeit, Schlafstörungen

Ökonomische Auswirkungen:

Kliniken und andere Organisationen im Gesundheitswesen müssen wie alle Unternehmen wirtschaftlich agieren, sie müssen Gewinne erzielen oder dürfen zumindest längerfristig keine Verluste erwirtschaften. Diesem Credo unterliegt jegliche Planung und Steuerung der Organisation. Dies zu negieren oder verändern zu wollen wäre nicht zielführend bzw. unrealistisch. Dennoch sollte stets mitberücksichtigt werden, dass die oben skizzierten strukturellen Mängel auf der Mitarbeiterebene, mittel- und langfristig zu deutlich erhöhten Kosten führen.
Der Kreislauf von schlechterer Versorgungsqualität aufgrund Stressbelastung führt zu Personalausfällen und Personalknappheit durch nicht besetzbare Stellen (wegen Fachkräftemangels oder geringer Attraktivität der Stelle), höherer Fehlerhäufigkeit bis hin zu Patientenschäden. Die daraufhin steigenden Haftpflichtprämien befördern zusätzlich die Kostenschraube.

Gesellschaftliche Auswirkungen:

Die Attraktivität der Berufe im Gesundheitswesen ist von hoher gesellschaftlicher Relevanz. Jedoch halten frustrierende Arbeitsbedingungen durch permanenten Zeitdruck und der hohen körperlichen Arbeitsbelastung durch Nachtdienste, hohe Verantwortung in Kombination mit einer geringen finanziellen Entlohnung zunehmend viele junge Menschen davon ab sich für diese Berufe zu entscheiden. Diese personellen Lücken können nur kurz- und mittelfristig durch die zunehmende Stellenbesetzung mit ausländischen Mitarbeitenden kompensiert werden, denn auch diese unterliegen denselben Risiken für Überforderung.

Möglichkeiten der Stressbewältigung:

Für Mitarbeitende ist die individuelle Prävention der wichtigste Ansatz um stressbedingten Folgen entgegenzusteuern und die eigene Widerstandskraft (Resilienz) zu erhöhen.
Selbstverantwortung ist hierbei die erste und wichtigste Botschaft.
Eine realistische Einschätzung der eigenen Belastbarkeit und die Kenntnis der eigenen Stressquellen sind die Basis für den Aufbau von Methoden zur Stressbewältigung. Diese ermöglicht, frühzeitig auf erste Warnzeichen stressbedingter Überforderung zu reagieren.
Es gilt, die Belastungsquellen zu identifizieren und Möglichkeiten zu kennen, die auch in Alltagssituationen anwendbar sind, um übermäßige Belastung zu vermeiden und sich zu regenerieren. Nur eine individuelle Stressbewältigung führt zu höherer Resilienz und diese muss tagtäglich stattfinden, es reicht nicht, sich Stressregeneration für den Urlaub aufzuheben.

WAS: Wahrnehmung der eigenen Empfindungen (Selbstwahrnehmung) WIE:  Geeignete Entspannungsmethoden und Regenerationsmöglichkeiten finden

WAS: Denkmuster überprüfen auf Lösungsorientierung (Selbstverantwortung) WIE: Kraftquellen und sinnstiftende Aktivitäten außerhalb der Arbeit finden

WAS: Realistische Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit WIE: Die eigenen Stärken und Potentiale erkunden und darauf fokussieren

WAS: Erkennen von Stressquellen und Reaktionsmustern WIE: Soziale Beziehungen stärken (Zeit reservieren für Freunde und Familie)

WAS: Aktiver Umgang mit Schwierigkeiten, Lösungsorientierung WIE: Optimistische Grundhaltung erlernen und lernen in der Gegenwart zu leben

Alltagstaugliche Strategien finden

Wie berechtigt Klagen über die Arbeitsumstände, die zunehmende Arbeitsverdichtung und den empfundenen Stress auch sein mögen, an der individuellen Belastung verändern werden sie nichts. Nur mit Eigeninitiative kann der Einzelne den negativen Auswirkungen etwas entgegensetzen.
Belastungen und überfordernde Situationen werden immer vorhanden sein. Dass neben der individuellen Prävention und der Arbeit an den eigenen Bewältigungsstrategien auf jeden Fall auch die Organisationen große Aufgaben zu bewältigen haben, ist selbstredend. Nur darauf zu hoffen, dass sich die Arbeitsbedingungen seitens der Organisation irgendwann optimal ausrichten werden, bringt jedoch nichts. Auf organisationaler Ebene ist in den letzten Jahren durch den Gesetzgeber einiges in Gang gesetzt worden, z.B. das Präventionsgesetz für die betriebliche Gesundheitsförderung, das seit Juli 2015 in Kraft ist und die Unternehmen verpflichtet, für ein Arbeitsumfeld zu sorgen, dass den Erhalt der Gesundheit fördert.
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/betriebliche-gesundheitsfoerderung.html
In erster Linie ist es eine eigenverantwortliche Aufgabe jedes Einzelnen, wirksames Selbstmanagement zu betreiben, gut für sich selbst zu sorgen, sich gesund und leistungsfähig zu erhalten. Es gibt dafür hilfreiche Strategien und Bewältigungsansätze, die gerade in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der individuellen Prävention gerückt sind. In diese Strategien sind Erkenntnisse und bewährte Ansätze aus der Stressforschung und der Depressionsbehandlung (z.B. MBSR Programme) eingeflossen. Dazu gehören Entspannungsverfahren wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung, Yoga, oder lediglich Übungen zum richtigen Atmen, Kurzmeditationen und Sport.

Mitarbeitende sollten sich unter professioneller Anleitung mit der eigenen Stressbewältigung auseinandersetzen und dabei eine individuelle, Resilienz fördernde Strategie entwickeln und üben diese konkret anzuwenden und im beruflichen Alltag beizubehalten. Dies kann in einem vom Arbeitgeber oder den Krankenkassen angebotenen Seminar oder Kurs zum Thema Stress und Resilienz gelernt werden. Bei der Auswahl eines Kurses sollte darauf geachtet werden, dass der Kursanbieter fachlich qualifiziert ist und einen ganzheitlichen und individuellen Ansatz nutzt. Kurse, die nur eine Methode propagieren oder nur eine Art der Stressbewältigung vorgeben, sind wenig nachhaltig, da sie vernachlässigen, dass Menschen sehr unterschiedlich reagieren und unterschiedliche Lösungsstrategien wirksam sind. Was für den einen Mitarbeitenden eine hilfreiche Methode darstellt kann bei dem nächsten wenig hilfreich bis kontraproduktiv sein, indem es Erfolgsdruck aufbaut und so eine zusätzliche Belastung darstellt. Es gilt, die eigenen Stressquellen und die eigenen Reaktionsmuster zu erkennen und dafür eine passende individuelle Strategie zu entwickeln.

Gerne unterstützen wir Sie bei Fragen zur Stärkung Ihrer Stessresistenz. Kontaktieren Sie uns unter Email: re@euteneier-consulting.de

Wir bieten in regelmäßigen Abständen Seminare zur Stärkung der Mitarbeiterresilienz gegen Stress. Schauen Sie auf unsere Webpage unter Resilienztraining - Krisenfitness entwickeln